Masseria

 

Alassio, 6. Oktober 2020

„Der höchste Lohn für unsere Bemühungen ist nicht das, was wir dafür bekommen, sondern das, was wir dadurch werden.“ (John Ruskin)

In gerader Linie verläuft die Autobahn durch die Ebene des Po-Deltas, an der sich zu beiden Seiten weite Felder ausdehnen. Maisfelder in langen gelben Halmen und spitzen Kolben, abgeerntete Felder mit großen runden Strohballen und ziegelrote Schollen von Ackerland wechseln die Landschaft.
Inmitten der Weite der Ebene liegen immer wieder Gehöfte von immenser Größe, Dörfern gleich.
Ein Anwesen erweckt meine Aufmerksamkeit.

Ich nehme die nächste Abfahrt und biege nach längerem Suchen in eine Allee von Eichen- und Eukalyptusbäumen, ca´lunga ist auf einem verbogenen Blechschild zu lesen.
Umwuchert von Efeu und wilden Feigenbäumen ist ein vierseitiges Gehöft ausnehmbar, mit einem großen Holztor an der Stirnseite, das in den Innenbereich führt. Die Pflastersteine im Innenhof sind von vertrocknetem Gras überwuchert, Fenster und Türen mit Holzbrettern zugenagelt, verrostetes Ackergerät liegt verstreut, das Anwesen verlassen. An der Südseite führt ein weiteres Tor wieder nach draußen in die umliegenden Felder und zu einer Kirche, die zum Anwesen zu gehören scheint.  

Ein alter Mann kommt des Weges; seine Schritte sind langsam und bedächtig, das Gesicht sonnengegerbt und von tiefen Furchen durchzogen. Eindringlich, einem Flehen gleich, wiederholt er immer wieder denselben Satz: andiamo a vedere la madonnina, andiamo a vedere la madonnina… sein Blick senkt sich dabei zu seiner rechten Seite, an der er in einer Jacke eingehüllt einen Hund im Armt trägt.
Ob er den Namen des Gehöftes kenne, ob hier noch jemand wohne? frage ich ihn. Sein Gesicht wird traurig und er erzählt, dass er hier vor mehr als siebzig Jahren mit seinen Eltern gewohnt hätte, die für den Besitzer des Hofes die Felder bestellten. Aber das sei alles vorbei, die Eltern tot, und ihm bleibe nur noch sein kranker Hund, das Warten auf sein eigenes Ende und die täglichen Gebete an die Madonna in der Kirche!

Das Scheunengleichnis von Viktor Frankl kommt mir in den Sinn das, inmitten der abgeernteten Felder und an der Seite der ehemaligen Speicher stehend, nicht besser passen konnte und ich erzählte ihm: ja, vieles im Leben ist vorbei und vergangen, wie der gelbe Weizen, der noch im Sommer auf diesen Feldern stand und von dem nur noch Reste der abgeschnittenen Halme zu sehen sind. Aber das Korn wurde in die Scheunen eingefahren und die Speicher sind nun voll. So ist es auch in unserem Leben. Nicht die Stoppelfelder und all das Verlorene sollen wir bejammern, sondern das sehen, was wir an all dem Geschaffenen, Erlebten, aber auch an all dem manchmal mutig Durchlittenen in die Scheune unseres Lebens eingefahren haben! 

Ihre Scheunen sind voll! Wie gerne würde ich ihren Geschichten lauschen!
Auf einmal beginnen seine Augen zu leuchten und er beginnt zu erzählen von damals und all dem, das unauslöschlich in seinem Leben für immer sein wird…  

Er müsse mir noch die Kirche zeigen! Vor einigen Jahren feierte man am Tage des Schutzpatrons hier noch die Messe, jetzt sei sie geschlossen. Hinter der vergitterten Tür bot eine Öffnung aus Glas den Blick ins Innere. Und da stand sie - die Madonna, oberhalb des Altars, in einem Rahmen von weißem Marmor. 

Wir verabschiedeten uns. Noch lange blickte ich ihm nach. Sein Gang schien behender, seine Haltung aufrechter. Seine Stimme war noch von weitem zu hören: la madonnina ci ha aiutati, la madonnina ci ha aiutati, …. Die Madonna hat uns geholfen!